Ist dir auch schon einmal der Gedanke gekommen, wie paradox es ist, dass du gerne fremde Städte erkundest, aber in deiner eigenen Stadt dafür nur wenig Motivation aufbringen kannst?
Du hast ja keine Vorstellung davon, wie oft mir Leute erzählen, dass sie München gerne besser kennenlernen würden. Dass man, so ganz grundsätzlich, mal mehr machen sollte, es ja eigentlich wirklich schöne Dinge hier zu sehen gäbe und wie schade es doch sei, dass man so wenig kennt.
Dann kommt oft ein Seufzer, ein Schulterzucken und eine schuldbewusste Miene. Und ganz egal, ob dann eine Reihe von Gründen oder erst einmal nur betretenes Schweigen folgt, fast immer fällt irgendwann der Satz: „Schon seltsam, im Urlaub schaue ich mir total gerne Städte an. Wieso mache ich das nie zuhause?“
Eine berechtigte Frage, wie ich finde. Warum begegnest du allen Städten dieser Welt mit Neugierde und Entdeckerdrang, außer deiner eigenen? Ich habe da so eine Theorie, die mit dem sogenannten Shiny Object Syndrom zusammenhängt. Und der Schwierigkeit einfach mal zufrieden zu sein.
Übersicht
Vom Begehren und der Faszination des Neuen
Mich fasziniert dieses Phänomen. Zum einen, weil ich es natürlich auch von mir selbst kenne. Dass ich mein eigenes Empfinden in anderen Menschen gespiegelt sehe, macht es umso interessanter. Zum anderen glaube ich, dass es viel darüber aussagt, wie wir Menschen ticken.
Denn es zeigt, wie Begehren funktioniert. Wie schwer es fällt, das zu genießen und wertzuschätzen, was ständig zur Verfügung steht. Einfach zufrieden zu sein, jetzt und hier und nicht irgendwann in der Zukunft an oder an einem anderen Ort.
Es ist kein großes Geheimnis, dass wir meistens das begehren, was wir gerade nicht haben. Ich finde es immer wieder erstaunlich, was für eine unglaubliche Anziehungskraft in Dingen liegt, die neu oder anders sind.
Doch der Fluch dabei ist leider, dass der Zauber nur anhält, solange das Objekt unseres Begehrens außerhalb unserer Reichweite liegt. Denn flatterhafte Wesen, die wir sind, verlieren wir in dem Moment das Interesse, in dem das Neue nicht mehr ganz so neu erscheint. Und richten unsere Aufmerksam auf das nächste aufregende Ding.
Das Shiny Object Syndrom
Vielleicht hast du schon einmal vom Shiny Object Syndrome gehört. Es ist eine Bezeichnung für genau dieses Verhalten: Den neuen, aufregenden Dingen hinterherzujagen, die so schön im Licht der Verheißung glitzern. Doch das Ausschauhalten nach neuen Glitzerteilchen hört niemals auf und das Begehren bleibt für immer ungestillt.
Weil es gar nicht um das Teilchen selbst, sondern um die Jagd nach dem Glitzer geht.
Vor allem in einer Welt, in der ständig alles verfügbar ist, in der es nicht viel mehr braucht als ein Smartphone und ein Paypalkonto, dauert der Zyklus vom Ausschauhalten nach Glitzerteilchen bis zum Besitz oft nur ein paar Minuten an.
Doch je kürzer die Jagd, desto kürzer auch die Freude daran. Und oft ist das Päckchen mit dem Objekt der kurzzeitigen Begierde noch nicht einmal bei dir eingetroffen, da hat sich schon das nächste Teilchen in dein Bewusstsein geglitzert.
Fluch und Segen der weiten Welt
Unterscheidet sich unser Reiseverhalten davon? Ich glaube nicht.
Denn auch die Welt der Reisen ist eine Welt, in der ständig alles verfügbar ist, in der es nicht viel mehr braucht als ein Smartphone und ein Paypalkonto und in der der Zyklus vom Ausschauhalten bis zum Besitz eines Flugtickets nicht viel länger dauert als ein paar Minuten.
Die ganze Welt steht dir offen. Egal ob Tokyo, St. Petersburg oder Warschau, wenn du willst, könntest du bereits morgen dort sein. Doch wie sollst du dich entscheiden? Und vor allem: Kannst du jemals genug gesehen, genug Orte entdeckt haben?
Und was ist eigentlich mit der Stadt vor deiner Haustüre? Die erscheint bei all der Auswahl, bei all den spannenden, wunderbaren, faszinierenden Orten, die darauf warten, von dir entdeckt zu werden, wenig glanzvoll.
Das sind wohl Fluch und Segen unserer Zeit: Die Möglichkeit alles zu tun und alles zu haben, macht es schwer, zufrieden zu sein.
Ein Leben auf Glitzersuche ist ein Leben dazwischen
Weißt du, was das fatale am Begehren ist? Dass es deine Konzentration auf etwas lenkt, das sich nicht in deiner Reichweite befindet. Etwas, das du zwar gerade nicht haben kannst, in dessen Richtung aber all deine Energie fließt.
Was bedeutet es, wenn du in eine fremde Stadt fahren musst, um deinem Entdeckerdrang gerecht zu werden? Liegt es daran, dass die anderen Städte aufregender, interessanter, schöner oder faszinierender sind? Ich glaube nicht. Denn es wäre völlig egal, ob du in New York, Paris, Sydney oder München lebst – das Shiny Object Syndrom würde dich überall heimsuchen.
Denn dann wäre dein Alltag ja dort. Und die interessante Glitzerwelt irgendwo anders.
Mit anderen Worten: Es liegt nicht am Ort, sondern an der Art und Weise, wie du ihn betrachtest. Oder besser: Nicht betrachtest. Denn das ist, was eigentlich passiert. Während wir uns sehnsuchtsvoll in die Ferne träumen, beachten wir gar nicht mehr richtig, was wir jeden Tag haben können.
Ein Leben in der Entweder-Oder-Welt
Das ist mitunter unserem Zeitgeist geschuldet. Wir leben in einer sogenannten Freizeitgesellschaft. Was nach Spaß und, na ja, viel freier Zeit klingt, heißt aber eigentlich vor allem eines: Dass wir unser Leben in Arbeit und Freizeit aufteilen.
Mir kommt es oft so vor, als würden wir in einer Welt aus entweder – oder leben.
Arbeit oder Freizeit.
Stadt oder Land.
Online oder Offline.
Alltag oder Urlaub.
Vor allem wenn es um das letzte Beispiel geht, schwingen noch einige weitere Entweder-Oders mit: Stress oder Entspannung, Langeweile oder Erlebnisse, Zuhause bleiben oder die Welt entdecken.
Aber müssen diese Gegensätze wirklich immer sein? Warum musst du immer auf den nächsten Urlaub warten, um dich erholen zu können, etwas zu erleben oder Neues zu erkunden?
Keine Erholung ohne Alltagsflucht
Irgendwie scheint sich in unser Gehirn eingebrannt zu haben, dass wir wegfahren, die Stadt verlassen müssen, um uns wirklich erholen zu können. „Ich muss einfach mal raus hier“, weil hier ist es stressig und anstrengend und hier ist Alltag.
Ohne Frage ist Urlaub wunderschön. Verreisen, die große weite Welt entdecken, neue Kulturen und Orte kennenlernen, die Zehen im Sand vergraben. Mit die wunderbarsten Erinnerungen meines Lebens habe ich von Reisen mitgebracht.
Aber leider macht Urlaub den kleinsten Teil unseres Lebens aus. Darum verliert er auch nie die Faszination, die ein shiny object ausmacht – weil wir ihn nicht für immer haben können.
Im Gegensatz dazu steht der Alltag. Das Wort allein weckt die Assoziation von grau und trübe, Langeweile und Beliebigkeit. Schon der Begriff Alltag spricht für sich: Etwas, das alle Tage passiert, kann gar nichts Besonderes sein.
Wie blickst du auf deine Stadt?
Aber mal ehrlich: Ist das wirklich das Leben, das du leben willst? Ein paar wenige bunte Wochen im Jahr und die Zeit dazwischen ausgegraute Alltagsbrühe, unterbrochen von kurzen Dopaminhits nach der Glitzerjagd?
Stattdessen könntest du versuchen, etwas mehr shininess in dein tägliches Leben zu bringen. Den Blick statt in die Ferne auf den Ort vor deiner Nase richten. Nicht vom Urlaub träumen, sondern dein Hier und Jetzt wahrnehmen. Die Zeit nutzen, die du in diesem Moment hast und das erleben, was dir jetzt zur Verfügung steht.
Es gibt eine Kur für das Shiny Object Syndrom und die heißt Zufriedenheit.
Das heißt nicht, dass du dich mit Gewalt davon überzeugen sollst, dass dein Alltag aufregend ist, wenn er es gar nicht ist. Dass du nicht mehr träumen darfst, neugierig sein sollst oder die Welt bereisen. Aber wenn dein tägliches Leben dich anödet, dann warte nicht auf den rettenden Urlaub. Mache den Alltag zur Entdeckungsreise! Sei neugierig auf das, was in deiner Welt passiert, mache dich auf die Reise in deiner Stadt.
Finde Perspektiven auf sie, die dich begeistern und faszinieren.
Denn du weißt es ja eigentlich schon lange: Dass man, so ganz grundsätzlich, mal mehr machen sollte, es ja eigentlich wirklich schöne Dinge hier zu sehen gibt und wie schade es doch ist, dass man so wenig kennt.
Also, worauf wartest du noch?
Du willst wissen, wie du deine Entdeckungsreise zuhause angehen sollst? Hier sind ein paar Artikel, die dich inspirieren könnten:
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Bildnachweis:
Beitragsbild: Foto von Sanaan Mazhar von Pexels
2 Kommentare
Hallo Katrin,
auch dieser Artikel hat mich wieder berührt, fasziniert und vor allem zum Nachdenken gebracht. Es ist erstaunlich, wie du mit deiner Schreibweise auch bei mir Gedanken und Gefühle aus dem Inneren hervorbringen kannst.
Conni
Liebe Conni,
ein größeres Kompliment kannst du mir nicht machen! Vielen Dank für deine Worte. 🙂
Alles Liebe,
Katrin