„Und keiner weint mir nach“. Ein Stück Münchner Stadtliteratur von Siegfried Sommer zum Tag der Buchliebhaber

von katrin
Sommer Siggi

Eigentlich braucht es wirklich keinen Anlass, um etwas über den Sommer Sigi zu schreiben. Schließlich war der Journalist und Schrifsteller wohl eines der münchnerischsten Dinge, die unsere Stadt jemals hervorgebracht hat.

Doch als ich überlegt habe, worüber ich anlässlich des heutigen Tages der Buchliebhaber schreiben könnte, ist mir spontan Sommers Roman Und keiner weint mir nach (1953) in den Sinn gekommen. Denn als Bücherwurm gibt es zwar eine Unmenge an Büchern, denen ich das Prädikat “Liebhaberobjekt” verleihen würde – wenn es aber an die Münchner Stadtliteratur geht, nimmt Sommers Buch einen ganz besonderen Platz in meinem Bücherherzen ein.

Der ewige Spaziergänger in der Sendlinger Straße

Falls du so wie ich zu der Generation von Münchner*innen gehörst, die zu jung sind, um den Sommer Sigi noch als leibhafte Stadtprominenz erlebt zu haben, ist dir sein Name vielleicht gar nicht unbedingt ein Begriff. Begegnet bist du ihm aber ganz sicher schon einmal: In der Rosenstraße spaziert er als lebensgroßes Bronzeabbild mit lässig halboffener Jacke, Turnschuhen an den Füßen und der Zeitung unterm Arm vom Marienplatz Richtung Sendlinger Straße.

Dort waren die Redaktionen der Süddeutschen Zeitung und der Abendzeitung zuhause, für die Sommer im Lokalressort schrieb. Beinahe 40 Jahre lang breitete er in seinen Kolumnen Lokalspitzen (SZ) und Blasius, der Spaziergänger (AZ) wöchentlich seine Gedanken über das Münchner Stadtgeschehen aus – und die hatten es oft gehörig in sich.

Er war bekannt für seinen unverblümten Schreibstil, gerade mit der richtigen Menge an spitzem Humor und bayerischem Grant gewürzt. Gerne gegen die “Großkopferten” wetternd und als jemand mit einem “Herz für die einfachen Leut”, war der Sommer Sigi ein Publikumsliebling der Münchner Leserschaft.

Ein Mietshaus voll kleinbürgerlicher Lebenswelten

Sein Debütroman Und keiner weint mir nach, der zunächst 1953 als Fortsetzungsreihe in der Süddeutschen Zeitung erschien, war da allerdings eine Ausnahme. Sommer schildert darin das Leben in einem Mietshaus am Auer Mühlbach in den 1920er Jahren – zu einer Zeit also, als die noch “Glasscherbenviertel” und nicht Altbauwohnparadies für Besserverdiener war. Sonst an einen humorvollen und leichten Ton vom Sommer Sigi gewöhnt, war die Ernsthaftigkeit des Buches für einen Großteil des Publikums ein Schock.

Protagonist des Romans ist der 18-jährige Leo Knie. Von beiden Elternteilen verlassen, wächst er bei seiner fast blinden Großmutter auf, die sich jedoch wesentlich mehr für ihre täglichen drei Gläser Bier als ihren Enkel interessiert. Leos Leben nimmt im Laufe der Erzählung immer tragischere Züge an und scheitert letzten Endes an verlorenen Freund- und Liebschaften und der daraus folgenden kontinuierlichen Vereinsamung.

Was den Roman für mich so faszinierend macht, ist Sommers Art, die Handlung mit Anekdoten über die Bewohner des Mietshauses zu verweben. Er erzählt auf eindrückliche Weise vom oftmals hart und wenig herzlich erscheinenden Arbeitsalltag des Münchner Kleinbürgertums und macht für seine Leser so eine fern anmutende Lebenswelt erfahrbar, die noch vor 100 Jahren für viele Bewohner Münchens Realität war.

“Sommers Buch ist nicht grell, es ist zart. Der Roman enthält die Geschichte einer Kindheit, wahrscheinlich der Kindheit des Verfassers. Es ist eine Erzählung der Armut, der Angst, der Scham, der geflickten Hosen, des Rohrstocks, des Miefs aus engen Stuben, der Kunsthonigbrote, der kleinen Daseinsfreuden, der großen Daseinstraurigkeit und einer nie obszönen Kindererotik.”

 

So äußerte der Autor Wolfgang Koeppen sich kurz nach Erscheinen des Buches 1954 in der Zeit (04/1954), als eine der wenigen zeitgenössischen Stimmen, die positiv auf Sommers Roman reagierte.

Ein Stück Münchner Stadtgeschichte

Wie Koeppen richtig vermutete, sind Sommer seine Schilderungen nicht zuletzt deshalb so gut gelungen, weil er selbst seine Kindheit in einem vergleichbaren Milieu erlebt hat. Als Sohn eines Möbelrestaurateurs wurde er 1914 in Untersendling geboren und war mit dem kleinbürgerlichen Leben der Münchner Vorstädte bestens vertraut. Zeitlebens machte er aus seiner Herkunft keinen Hehl und zog sogar einen gewissen Stolz daraus, ein “Kind der Vorstadt” zu sein.

Heute gibt es in München keine Gegend mehr, die mit den ehemaligen “Glasscherbenvierteln” auch nur ansatzweise vergleichbar wäre (ja, auch das Hasenbergl oder Milbertshofen wirken da im Vergleich wie auf Hochglanz poliert). In unserer geschniegelten und gestriegelten Stadt ist es bloß noch schwer vorstellbar, dass herunter gekommene Mietshäuser, Mitleid erregend ärmliche Lebensverhältnisse zwischen Fabrikbauten und Kohlequalm und sogar Kinderstraßenbanden in bestimmten Gegenden schlichte Normalität waren.

Sommers Roman gibt in diesen eher unbekannten Teil der Münchner Stadtgeschichte einen eindrucksvollen Einblick und das auf eine unglaublich authentische, ungeschönte, aber auch einfühlsame Art und Weise. Darum kann ich dir nicht nur als Buchliebhaberin, sondern auch als Liebhaberin unserer Stadt, dieses Stück Münchner Literatur jenseits von jeder verklärenden Heimatnostalgie wärmstens ans Herz legen.

Der Beliebtheit der Person und des Kolumnisten Sigi Sommer hat der Roman übrigens keinen Abbruch getan. Auch war dem Buch nach dem anfänglichen Aufruhr doch noch ein nicht geringer Erfolg beschieden. Bertold Brecht bezeichnete Und keiner weint mir nach sogar als den besten Roman der Nachkriegszeit.

Einen Haken gibt es jedoch : Das Buch wurde zuletzt 2008 von der Süddeutschen Zeitung Bibliothek noch einmal neu aufgelegt und ist seitdem vergriffen. Aber antiquarisch kannst du bestimmt noch fündig werden – die Suche lohnt sich jedenfalls!

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