Wozu pflegen wir Menschen eigentlich Rituale und Bräuche? Gerade steht wieder die Weihnachtszeit vor der Türe und mit ihr eine Phase, die vor Ritualen und Bräuchen nur so überfließt. Aber auch wenn die letzten Wochen des Jahres in dieser Hinsicht besonders intensiv sind, heißt das nicht, dass das Thema sonst keine Rolle spielen würde.
Vielleicht ist es dir in deinem Alltag gar nicht so bewusst, aber Rituale sind wirklich überall zu finden. Zum einen natürlich in regelmäßigen Feierlichkeiten oder zu besonderen Anlässen, aber auch in deinem alltäglichen Leben.
Als Historikerin kommen mir Rituale ständig unter, schon allein, weil sie einen wichtigen Teil unserer kulturellen Prägung ausmachen. Ich beschäftige mich zum Beispiel immer gerne damit, was gerade im Jahresverlauf ansteht. Jahreszeiten, Feste, saisonbedingte Tätigkeiten… sie alle sind Teil der Kultur, in der wir leben. Und sowohl Rituale als auch viele Bräuche sind untrennbar damit verbunden.
Mir hat es aber nicht mehr gereicht, einfach nur zu erklären, welche Rituale und Bräuche es gibt oder wie sie entstanden sind. Denn eine Frage, hat sich mir dabei geradezu aufgedrängt: Die nach dem Warum.
Eben nicht nur, warum wir dieses oder jenes Fest feiern. Sondern auch, warum es immer wiederkehrende Rituale gibt, die wir mit diesen Anlässen verbinden. Wieso haben wir Menschen das Bedürfnis Rituale zu gestalten, warum halten sie sich teilweise über Jahrhunderte oder Jahrtausende hinweg und was für einen Zweck haben sie – auch heute noch?
Ich habe mich auf die Suche nach Antworten gemacht. Was ich herausgefunden habe, erfährst du in diesem Blogartikel.
Übersicht
Was ist ein Ritual?
Wenn du Ritual hörst, denkst du vielleicht unwillkürlich an unheimliche Zeremonien von Geheimgesellschaften mit Dämonenaustreibung, Blutopfern und brennenden Fackeln. Die gibt es natürlich auch. Aber da ich persönlich keinem geheimen Club angehöre (schade eigentlich…) und wie ich vermute, du wahrscheinlich auch nicht, werden das nicht die Rituale sein, von denen ich hier hauptsächlich rede.
Ein Ritual ist laut Wikipedia
“[…] eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt. Sie wird häufig von bestimmten Wortformeln und festgelegten Gesten begleitet und kann religiöser oder weltlicher Art sein […].”
Wikipedia-Artikel „Ritual“
Rituale laufen also nach einem festgelegten Muster ab und oft bauen die Handlungen auch aufeinander auf. Dadurch wird allen Beteiligten klar, dass es sich hier nicht um irgendwas Zufälliges handelt, sondern um ein wirklich wichtiges Ereignis. Bei einem Ritual muss darum auch nicht gesagt werden: “Achtung, was jetzt kommt ist bedeutend.” Du wirst das unwillkürlichen spüren, einfach weil die Handlungen selbst es transportieren.
Was auch nicht extra erklärt werden muss, sind die Symbole, die in dem Ritual vorkommen. Wenn zum Beispiel eine Kerze angezündet oder etwas verbrannt wird, verbindest du ganz intuitiv eine Bedeutung damit. Du weißt, was mit dieser Handlung bezweckt werden soll, ohne dass du darüber nachdenken oder sprechen müsstest. Voraussetzung dafür ist aber, dass du mit dem kulturellen Kontext vertraut bist, in dem das Ritual stattfindet. Symbolkraft kann nämlich von Kultur zu Kultur stark variieren.
Rituale kehren außerdem immer wieder und haben einen festen Platz in unserem Leben.
Die drei Ebenen: Gesellschaft, Beziehung und Individuum
Es gibt drei Ebenen, auf denen Rituale abgehalten werden: gesellschaftlich, beziehungsbezogen oder individuell.
Welche Rituale in einer Kultur besonders wichtig sind, hängt davon ab, ob eine Gesellschaft eher individualistisch oder kollektivistisch geprägt ist. Wenn sich die Gesellschaftsform und die damit verbundenen Werte wandeln, verändern sich auch die Rituale.
Zu den Ritualen auf gesellschaftlicher Ebene gehören zum Beispiel alle größeren Feste, die im Jahresverlauf immer wieder kommen. Die bringen allgemein gültige Rituale mit sich – wie etwa einen Weihnachtsbaum aufzustellen. Allerdings sind diese Rituale nicht mehr so verbindlich wie früher, als Religion noch ein verbindendes Element für den Großteil der Gesellschaft war.
Rituale in Beziehungen sorgen vor allem für Halt und Verbundenheit. Wie zum Beispiel das gemeinsame Abendessen in der Familie oder der jährliche Urlaub mit der besten Freundin. Diese Art von Ritualen kann sowohl gesellschaftlich weit verbreitet sein als auch ganz persönlich und individuell.
Auch auf der individuellen Ebene können Rituale die Beziehung stärken – allerdings zu dir selbst. Oft werden sie auch genutzt, um sich dem eigenen Körper oder der Gesundheit zuzuwenden. Ich pflege zum Beispiel ein Morgenritual, das mir hilft, meine innere Balance zu halten. Dafür meditiere ich zuerst eine Weile nach dem Aufstehen, dann mache ich mir eine Tasse Tee und schreibe mehrere Seiten in ein Journal. So schaffe ich Raum für meine psychische Gesundheit, was ohne das Ritual sonst im Alltagsstress schnell untergehen würde.
Die Arten von Ritualen
Und was für Arten von Ritualen gibt es?
Da wären einmal die Geburts- oder Eintrittsrituale, wie zum Beispiel Schwüre oder Feierlichkeiten, wenn jemand in eine Gemeinschaft aufgenommen wird. Die Vereidigung des Amerikanischen Präsidenten zählt zu dieser Form von Ritualen. Aber auch eine Mutprobe bei der Aufnahme in eine Studentenverbindung ist ein Eintrittsritual.
Das Gegenstück dazu sind Ausschluss- oder Todesrituale, also Beerdigungen oder etwa die Feierlichkeiten zum Studienabschluss.
Dann gibt es kulturelle bzw. religiöse Feierrituale, wie Silvester oder Ostern. Diese Rituale finden sich sowohl bei den verantwortlichen Institutionen als auch in den Familien wieder, wo sie in ähnlicher Form zelebriert werden.
Und schließlich sind da noch Rituale des Lebenszyklus, zu denen Hochzeiten, Jahrestage oder auch Jubiläen zählen.
Ritual oder Gewohnheit?
Zugegeben: Das Wort “Ritual” wird heutzutage ziemlich inflationär und häufig nicht im Sinne der eigentlichen Definition gebraucht. Die Unterscheidung zwischen Gewohnheit und Ritual ist dabei nicht immer ganz einfach und verschwimmt schnell.
Aber im Grunde geht es bei einem Ritual auch immer darum, dass die Handlung über sich selbst hinausweist.
Wenn ich mir also jeden Morgen meinen Tee mache und mit meinem Journal hinsetze, um meine Gedanken aufzuschreiben, geht es nicht ausschließlich um die bloße Tätigkeit. Ich mache das nicht (nur), weil ich meinen Flüssigkeitshaushalt auffüllen oder mir Notizen machen möchte. Für mich bedeutet es auch, die Beziehung zu mir selbst zu pflegen und meine geistige Gesundheit zu stärken.
Wenn ich eine Gewohnheit, die mir ohne Zweifel gut tut, in eine rituelle Handlung verpacke, steht sie für mehr als nur das gesunde Verhalten. Sie erinnert mich an einen größeren Kontext und hebt durch das Zelebrieren der Tätigkeit auch die Wichtigkeit hervor.
Und was ist ein Brauch?
Nur der Vollständigkeit halber, möchte ich noch erwähnen, dass Bräuche und Rituale zwar eng verwandt, aber nicht dasselbe sind. Ich verwende sie oft in einem Atemzug. Das liegt einfach daran, dass sie oft so schwer voneinander zu trennen sind – vor allem auf gesellschaftlicher Ebene.
Bräuche sind ebenso wie Rituale wiederkehrende, soziale und stark ritualisierte Handlungen. Sie sind in der Gemeinschaft entstanden und werden oft im Rahmen einer Tradition gepflegt.
Der Unterschied zu Ritualen besteht laut Wikipedia vor allem darin, dass Bräuche nicht ganz so symbolhaft sind. Oft sind sie allerdings aus Ritualen oder auch kultischen Handlungen entstanden, weshalb sie noch Teile der ursprünglichen Symbolik in sich tragen können.
Ob das Weihnachtsbaumaufstellen zum Beispiel eher ein Brauch oder ein Ritual ist, kommt meiner Meinung nach auf den Kontext an. In meiner Familie ist das Baumkaufen, Aufstellen und Schmücken an sich schon ein Ritual geworden. Er ist für uns das symbolische Einläuten der Feiertage. Seine Anwesenheit im Wohnzimmer markiert den Punkt, ab dem der Alltag in den Hintergrund tritt und der Ruhe und Feierlichkeit Platz macht, die die Festtage ausmachen.
Das Konzept “Weihnachtsbaum” selbst ist jedoch eher ein Brauch, meine Familie hat nur ein persönliches Ritual daraus gemacht.
Aber für diesen Artikel und die Frage nach dem Warum ist die genaue Unterscheidung gar nicht so wichtig – denn Bräuche und Rituale erfüllen sehr ähnliche Funktionen.
Wozu gibt es Rituale?
Oben habe ich auch schon ein paar nützliche Effekte von Ritualen angesprochen, wie etwa den Aspekt der Verbundenheit oder Beziehungspflege. Doch es gibt noch einige mehr.
Ich höre immer wieder, dass Bräuche und Rituale in einer modernen und aufgeklärten Welt keinen Platz mehr haben. Dass das nicht stimmt, siehst du allein daran, dass sich Rituale bis heute halten. Hätten sie ihren Sinn verloren, würden Menschen sie nicht mehr weiterpflegen – so einfach ist das.
Wenn du dich außerdem ein bisschen mit den Hintergründen beschäftigst, wird deutlich, dass es bei Ritualen nicht nur um erstarrte und rückwärtsgewandte Brauchtumspflege geht (klar, die gibt’s natürlich auch).
Aber in den meisten Fällen erfüllen sie tatsächlich einen Zweck.
Einige der wichtigsten Funktionen habe ich hier zusammengetragen – mit keinem Anspruch auf Vollständigkeit. Denn so zahlreich wie die verschiedenen Rituale sind, die es gibt, genauso vielschichtig ist auch die Psychologie dahinter.
Die Befriedigung von Grundbedürfnissen
Rituale befriedigen eine ganze Reihe von psychologischen Grundbedürfnissen. Darum sind sie wohl auch in jedem Kulturkreis und zu jeder Zeit zu finden.
Ganz zuerst geben sie Halt, Orientierung und Struktur. Weil Rituale immer wiederkehren und auf die gleiche Weise gefeiert werden, bieten sie dir Stabilität in einer oftmals ziemlich chaotischen Welt.
Weihnachten oder Ostern sind zum Beispiel Fixpunkte, an denen du dich orientieren kannst – egal, wie verrückt dein Jahr bisher war. Wie schwierig es für Menschen sein kann, wenn diese Marker aufeinmal wegfallen, konntest du in den letzten zwei Pandemiejahren erleben. Ich für meinen Teil hätte nie gedacht, wie wichtig für mich das Osterfrühstück mit meiner Familie ist. Ich bin kein Stück religiös, aber für mich sind diese Familienfeste wichtige Wegweiser im Jahresverlauf.
“Rituale schaffen Ordnung in einer zufälligen Welt. Sie stabilisieren auch, wenn wir sonst das Gefühl haben, alles sei belanglos.”
Michael von Brück, Professor für Religionswissenschaft an der Uni München
Außerdem schaffen die Rituale, die du mit deiner Familie oder Freunden teilst, ein Gefühl von Verbindlichkeit und Zusammenhalt. Du kannst dich immer darauf verlassen, dass zu bestimmten Anlässen ein fester Kreis an Menschen zusammenkommt, was du (im Idealfall) mit positiven Gefühlen verbindest. Und sogar wenn du Tante Irmgard eigentlich furchtbar nervig findest, gehört sie halt doch irgendwie dazu.
Dadurch stärkst du natürlich auch deine Verbindungen zu anderen Menschen. Indem du mit ihnen ein Ritual teilst, schafft ihr eine gemeinsame Wirklichkeit. Ihr teilt ein Erlebnis, zelebriert zusammen einen Moment und gestaltet ihn oft sogar aktiv mit. Das verbindet – selbst mit Tante Irmgard.
Damit ein Gefühl von Verbundenheit entsteht, musst du übrigens noch nicht einmal mit jemandem gemeinsam an einem Ritual teilnehmen. Es reicht schon, wenn ihr euch gegenseitig von Weihnachten oder dem letzten Fasching erzählt. Weil jeder damit etwas ähnliches verbindet, schafft das nicht nur Vertrauen, sondern auch eine gemeinsame Basis.
Es gibt noch eine Reihe weiterer Grundbedürfnisse, die durch Rituale befriedigt werden. Da wären zum Beispiel das Gefühl von Geborgenheit, die persönliche Einordnung innerhalb einer Gruppe und soziale Identität.
Emotionen und Raum für das besondere Erleben
Ein Ritual hat oft etwas besonderes, feierliches an sich. Wir betonen das Ereignis und wie wir es erleben so sehr, dass es geradezu überhöht wird. Und auch wenn der Verstand das vielleicht albern findet – auf einer tief emotionalen Ebene spricht es uns an.
Über Rituale entsteht ein Raum, in dem du diese teilweise überhöhten Gefühle ausleben darfst. Hast du auf einer Hochzeit schon einmal das eine oder andere Tränchen verdrückt und das Brautpaar mit Herzchen in den Augen angehimmelt? Ich auf jeden Fall. Und in so einer Situation wird dich auch nie irgendjemand komisch anschauen. Im Gegenteil – es wirkt eher emotionslos und kalt, wenn du kein Zeichen der Rührung oder Anteilnahme zeigst.
Die Emotionen, die du mit den Ritualen verbindest, färben übrigens auch deine Erinnerungen ein – und damit deine Haltung zu den jeweiligen Ritualen. Wenn deine Familie an Weihnachten zum Beispiel immer gestritten hat, ist es gut möglich, dass du dem “Fest der Liebe” eher kritisch gegenüberstehst. Wenn du es aber mit Plätzchenduft, tollen Geschenken und fröhlicher Qualitytime mit der Familie verbindest, wirst du eher positiv darüber denken.
Gerade dadurch, dass Rituale so stark mit Emotionen aufgeladen sind, bieten sie für manche Menschen eine Fluchtmöglichkeit. Sie verlieren sich dann in Erinnerungen an “die gute alte Zeit” oder versuchen eine Wunschidentität zu kreieren. Dann wird zum Beispiel an Feiertagen eine heile Familie vorgegaukelt oder sie schwelgen in nostalgisch verklärten Kindheitserinnerungen.
Die Weitergabe von Wissen
Rituale sind außerdem für die Vermittlung von Wissen sehr nützlich. Vor allem altes Wissen wird so über Generationen hinweg weitergegeben.
Dabei handelt es sich meistens um nicht bewusst reflektiertes, sondern um sogenanntes implizites Wissen. Diese Art von Wissen funktioniert sehr unterbewusst. Es bezieht sich eher auf ein intuitives Begreifen, das du zwar besitzt, aber nicht unbedingt erklären könntest. Ungefähr so, wie du schwimmen kannst, aber es dir wahrscheinlich schwerfallen würde, die Abläufe zu beschreiben.
Auch Gesellschaften geben implizites Wissen weiter, gerne in Form von Ritualen. Sie sind häufig das Spiegelbild einer Kultur und vermitteln darüber bestehende Werte und Normen. Natürlich können kulturelle Inhalte irgendwann überholt und nicht mehr zeitgemäß sein – dann verlieren die Rituale ihre Funktion. Das kann zu Konflikten führen, wenn sich zum Beispiel ein Wertewandel von einer Generation zur nächsten vollzogen hat.
“Gerade bei Ritualen zeigt sich, dass der Mensch eingebettet ist in seine Kultur, Gesellschaft und Umgebung.”
Dieter Frey und Katja Mayr: Psychologie der Rituale und Bräuche
Manchmal bleiben die Rituale aber auch bestehen und ihr Inhalt wandelt sich stattdessen oder sie gehen mit aktuellen Trends. Das frühe Christentum hat sich das etwa zunutze gemacht, indem es viele heidnische Riten und Bräuche einfach gekapert und ihnen einen christlichen Inhalt gegeben hat.
Etwas ähnliches passiert auch heute wieder, wenn christliche Rituale säkularisiert werden. Hast du vor Ostern zum Beispiel schon einmal auf Süßigkeiten oder Alkohol verzichtet? Statt aus religiösen Gründen machen viele das heute der Gesundheit zuliebe und nehmen die gesellschaftliche, ursprünglich religiöse Tradition der Fastenzeit zum Anlass dafür.
Was ich übrigens auch sehr faszinierend finde: Es gibt eine bestimmte Art von Ritualen und das mit ihnen verbundene Wissen, die fast überall auf der Welt existieren. Dazu gehören die sogenannten Übergangsrituale, die Menschen auf wichtigen Lebensstationen begleiten.
Das Feiern von Hochzeiten oder Beerdigungen findest du zum Beispiel in allen fünf Weltreligionen. Zu diesen Anlässen befinden sich Menschen in Ausnahmesituationen, die überfordernd sein können. Durch Rituale haben sie Zugriff auf uraltes Wissen, wie man am besten mit diesen Herausforderungen fertig wird und das sich über Generationen hinweg bewährt hat.
Positive Auswirkung auf die Lebensführung
Last but not least haben Rituale eine positive Auswirkung auf dein persönliches Leben.
Wie du schon weißt, geben Rituale dir Orientierung – auch wenn es dir bisher nicht wirklich bewusst war. Sie unterstützen dich auf der Suche nach persönlicher und sozialer Identität, schaffen Verbindungen, vermitteln Lebensweisheiten und Wissen vorhergegangener Generationen und fördern die Gemeinschaft.
Deshalb werden Rituale von Psychologen sogar als Teil der Persönlichkeitsentwicklung betrachtet.
Doch das ist noch nicht alles. Denn sie können auch die Selbstwirksamkeit eines Menschen fördern, also das Gefühl, das eigene Leben beeinflussen zu können. Denn rituelle Handlung (und der nicht selten damit verbundene Aberglauben) vermitteln ein positives Gefühl und fördern eine optimistische Einstellung. Dadurch fühlen sie sich scheinbar “glücklicher” – und Rituale werden nicht selten zur self-fullfilling prophecy.
Außerdem kannst du mithilfe von Ritualen deine körperliche und psychische Gesundheit positiv beeinflussen. Es fällt viel leichter mithilfe von ritualisierten Handlungen Gewohnheiten einzuhalten. Das spart schlicht und ergreifend Gehirnkapazitäten, weil du nicht jedes Mal wieder von vorne darüber nachdenken musst.
Studien haben sogar gezeigt, dass durch Rituale neue Verknüpfungen im Gehirn entstehen können – wie bei jeder anderen regelmäßig ausgeführten Handlung auch. Rituale helfen dir aber nochmal mehr, auch wirklich dran zu bleiben und neue Gewohnheiten nachhaltig zu etablieren.
Kein Wunder also, dass Rituale in der Produktivitäts- und Persönlichkeitsentwicklungsszene oft als Wunderwaffe gefeiert werden. Aber auch wenn du den ewigen Drang zur Selbstoptimierung nicht gutheißen oder mitmachen willst, können Rituale eine wertvolle Bereicherung für dich sein.
Denn was auch immer du an Wachstum oder positiven Gewohnheiten in dein Leben bringen willst – Rituale können dich auf jeden Fall dabei unterstützen.
Fazit
Wow, was für eine lange Liste. Ich glaube ich konnte deutlich zeigen, dass Rituale mehr sind als überholter Hokuspokus aus vergangenen Zeiten. Und vor allem, dass sie auch mal wieder nicht nur für Geschichtsnerds wie mich spannend sind.
Sie sind so eng mit unserem Menschsein verknüpft, dass es nicht überrascht, was für eine zentrale Stelle sie in der Welt einnehmen – und das über Kulturen und Zeitspannen hinweg.
Und auch wenn Gründe wie die Befriedigung von Grundbedürfnissen, Weitergabe von Wissen oder Einfluss auf deine Lebensführung alles interessante Aspekte sind, hat sich für mich noch ein weiterer Punkt herauskristallisiert.
Wir leben in einer so rationalen Welt, in der aller Fokus auf Daten und materielle Dinge gerichtet ist, dass wir dabei eine wichtige Seite des menschlichen Daseins vernachlässigen. Der Mensch hat nicht nur einen angeborenen Sinn für Schönheit, Spiritualität (und das meine ich nicht religiös) und Verbundenheit – sondern er braucht diese Dinge.
Rituale geben uns den Raum und die Erlaubnis, diese urmenschlichen Bedürfnisse auszuleben. Sie vermitteln uns nicht nur das Gefühl des Besonderen, Erhabenen, sondern verschaffen uns Zugang zu dem, was hinter dem Ritual liegt. Sie holen uns auf eine höhere Ebene, eine auf der wir uns mit etwas Größerem verbunden fühlen, als nur unserem eigenen Dasein. Dabei ist es egal, ob dieses “Größere” die Generationen vor uns, eine Kultur, eine Gemeinschaft, eine Idee oder das Universum ist.
Darum wird es auch immer Rituale geben. Denn solange wir Menschen nicht aufhören, Mensch zu sein, wollen wir diese Verbindung spüren. Religionen, Gesellschaften, Kontexte – sie alle mögen sich wandeln. Aber eines bleibt für uns Menschen gleich: Wir wollen Teil eines Ganzen sein. Und das Ritual, das wissen wir intuitiv, ist dafür eine Eintrittskarte.
Literaturverzeichnis
Dieter Frey (Hrsg.): Psychologie der Rituale und Bräuche. 30 Riten und Gebräuche wissenschaftlich analysiert und erklärt, Berlin 2018.
Beatrice Wagner: Die unheimliche Macht der Rituale, Artikel auf welt.de vom 14. Juni 2011.
Stangl, W. (2021): Ritual, Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.