St. Martin: Von spätantikem Minimalismus, katholischem Popstarkult und verräterischen Gänsen

von katrin

Es ist wieder soweit: Heute am 11. November ist St. Martinstag. Für mich gehören die Bräuche und Feierlichkeiten zu Ehren des St. Martin mit zu den schönsten im Jahresverlauf.

Vielleicht, weil sie so viel Licht und feine Leckereien in den dunklen November zaubern. Und ganz bestimmt auch, weil ich den Martinstag schon als Kind so gerne mochte. Laternenumzug, Lieder singen und Martinsgänse aus Quark-Öl-Teig geschenkt bekommen – damit hatte ich alles vereint, was ich mir als Vierjährige nur wünschen konnte (Lichter, Musik und Kuchen mochte ich schon damals sehr gerne).

Als Erwachsene mag ich all diese Dinge immer noch. Mich interessiert aber heute natürlich auch die Geschichte dahinter und der historische Hintergrund zum Brauchtum. Zu meiner eigenen Schande muss ich gestehen, dass ich bis jetzt nicht viel über St. Martin und die Feierlichkeiten am 11. November wusste. Der Kindergarten ist halt doch schon ein Weilchen her…

Also habe ich zu diesem Anlass ein bisschen recherchiert – und erstaunt festgestellt, dass wir richtig viel über St. Martin wissen. Sein Leben und Wirken ist extrem gut dokumentiert, was für die Spätantike absolut nicht selbstverständlich ist.

Wenn du auch wissen willst, was für ein Mensch hinter dem Heiligen mit dem geteilten Mantel steckt, warum zu seinem Namenstag Gänse gebacken werden und Kinder Lieder singend und Laternen schwenkend durch die Nacht laufen, dann lies weiter. Denn all das erfährst du in diesem Blogartikel.

Das Leben von St. Martin

St. Martin kennt wohl wirklich jedes Kind. Wahrscheinlich ist er einer der ersten Heiligen überhaupt, die uns begegnen – lange, bevor ein Kind das Konzept “Heiliger” begreifen kann. Im Gegensatz zu den Lebensläufen anderer Heiliger ist der des St. Martin recht kinderfreundlich: Keine grausame Verfolgungen, schlimmen Krankheiten und vor allem kein blutiger Märtyrertod. Er war sogar der erste Heilige überhaupt, der nicht zu Tode massakriert wurde, sondern einfach im Alter von 80 Jahren friedlich starb.

Doch ich greife vorweg. Also, wer war St. Martin – und wo, wann und wie hat er gelebt?

Vom römischen Soldaten zum “Soldaten Christi”

Geboren wurde er 316/17 in Pavia, im Norden Italiens. Also Sohn eines römischen Tribuns wuchs er in Pannonien, dem heutigen Ungarn auf. Mit gerade einmal 15 Jahren ging Martin auf Wunsch seines Vaters zum Militär und wurde Mitglied der berittenen Garde von Kaiser Konstantin II. in Gallien.

Martin kam schon als Teenager mit dem Christentum in Kontakt und ließ sich mit 18 Jahren von Hilarius, dem späteren Bischof von Poitiers, taufen. Der christliche Glaube brachte ihn schon bald in Konflikte mit seinem Soldatendasein, weshalb er mit vierzig schließlich seine Militärkarriere an den Nagel hängte. Von nun an wollte er bloß noch ein “Soldat Christi” sein.

Ein halber Mantel für einen Bettler

Die wohl bekannteste Legende aus dem Leben von St. Martin spielte sich übrigens noch zu seiner Militärzeit ab. Im Jahr 338 ritt Martin auf seinem Pferd in die Stadt Armiens. Am Stadttor entdeckte er einen frierenden Bettler, der vergeblich bei den umstehenden Menschen um Hilfe bat. Martin, der nichts bei sich trug außer sein Schwert und seinen Mantel, zögerte nicht und teilte seinen Umhang in zwei Teile. Die eine Hälfte schenkte er dem zitternden Mann und hüllte sich selbst notdürftig in die andere. Für sein heruntergekommenes Aussehen erntete er Spott und Hohn, doch kümmerte es ihn nicht. Denn er wusste, dass er das Richtige getan hatte. In der folgenden Nacht erschien ihm Jesus Christus in seinem Traum, gehüllt in die Mantehälfte des Bettlers. Christus offenbart ihm, dass er der Bettler am Stadttor und die Szene eine Prüfung für Martin gewesen war.

St. Martin wird zum Mönch

Nach einem kurzen Besuch bei Hilarius kehrte Martin in seine Heimat Pannonien zurück. Dort taufte er seine Mutter und unternahm einige Missionierungsversuche. Allerdings geriet er in Streitigkeiten um den Arianismus1 und wurde ausgewiesen.

Nach diesem Erlebnis verzog Martin sich als Einsiedler auf die kleine Insel Gallinaria an der Küste vor Genua. Doch die Ruhe dort war ihm nicht lange vergönnt, denn Hilarius rief ihn zu sich nach Gallien. In der Nähe von Portiers fand Martin ein paar Gleichgesinnte und gründete mit ihnen eine Einsiedlerzelle, woraus eines der ersten Klöster der Gegend wurde.

In der Bevölkerung war Martin ziemlich beliebt, weil er als Mönch ein so genügsames Leben führte, Wundertaten vollbrachte und sich immer um die Bedürfnisse der Armen und Notleidenden kümmerte. Als Hilarius starb, wollten sie ihn daher zum Bischof von Tours machen. Und das obwohl alle, die etwas zu sagen hatten, dagegen waren: der Klerus, die anderen Bischöfe, nicht mal St. Martin selbst wollte Bischof werden!

Das Kloster Marmoustier und ein minimalistischer Bischof

Er versteckte sich sogar, um der Wahl zu entkommen. Doch es half alles nichts und Martin wurde schließlich zum Bischof von Tours ernannt. Das hieß allerdings nicht, dass er seinen minimalistischen Lebensstil aufgab. Im Jahr 375 gründete er in der Nähe von Tours eine Kolonie an der Loire, woraus später das Kloster Marmoustier wurde.

Die Umstände im Kloster waren…hm, ich sage mal: spartanisch. Insgesamt achtzig Mönche wohnten ohne persönliches Eigentum zusammen. Sie waren allein auf Spenden angewiesen, da sie Güter weder kaufen noch verkaufen durften. Jede Form der Handarbeit außer Schreiben war untersagt. Gegessen wurde einmal täglich, ansonsten wurde gemeinsam gebetet und strenge Klausur gehalten. Wenn das mal nicht Minimalismus auf next level ist.

St. Martin putzte sogar seine eigenen Schuhe und saß statt auf einem Bischofsthron angeblich auf einem Bauernschemel. Was war das nur für ein Bischof? So dachte wohl der Klerus, der kein großer Fan von Martins Lebensstil war (das waren sie nie, die werten Herren vom geistlichen Adel, wenn jemand ihnen ihren eigenen Konsum so gnadenlos unter die Nase rieb).

Übersichtsplan des Klosters, das von St. Martin gegründet wurde
Louis Boudan, Plan des Klosters Marmoustier Lez Tours, 17. Jahrhundert
(Gemeinfrei, Wikimedia Commons)

Ein Leben voller Wundertaten

Beim Volk war St. Martin dafür umso beliebter. Er muss seinem Titel als Heiliger wirklich alle Ehre gemacht haben – auch wenn er damals offiziell noch gar keiner war.

Wenn man den Geschichte glauben darf, vollbrachte er allerlei Wunder, heilte Kranke, holte ein Kind von den Toten zurück und einmal bekleideten ihn sogar Engel während einer Messe. Seine Ärmel waren zu kurz, weil er zuvor einem Bettler seinen passenden Mantel geschenkt hatte (schien eine Angewohnheit von ihm gewesen zu sein).

Martins Heiligkeit schien so stark zu sein, dass sie abfärbte. Selbst sein Esel konnte Wunder vollbringen! Als der nämlich an der Loire die Blätter von einer Weinrebe fraß, gab es zunächst Ärger. Doch als später im Jahr die süßesten Trauben daran wuchsen, war es allen klar: Auch das war ein Wunder!

Ein Buch über St. Martin

Das Leben von St. Martin ist die erste Heiligenvita überhaupt, die aufgeschrieben wurde. Der Autor Sulpicius Severus begegnete Martin wenige Jahre vor dessen Tod und hat ihn wohl recht gut gekannt. Daher wissen wir so viel über sein Leben. Natürlich wird vieles überhöht dargestellt und wie sehr du das mit den Wundern glaubst, liegt bei dir – aber die Basics stimmen mit großer Sicherheit.

Ein vielbeschäftigter Schutzheiliger

Nachdem St. Martin am 8. November 397 auf einer seiner Missionsreisen in Candes verstarb, wurde er drei Tage später am 11. November in Tours beigesetzt. Das Datum des Martinstags ist also das seiner Beisetzung, nicht seines Todes.

Damit war die Beliebtheit des Bischofs aber nicht vorbei, im Gegenteil. Auf seinem Grab errichtete man eine Kapelle, die schnell zum viel besuchten Pilgerziel wurde. Das Volk verehrte Martin schon bald als Heiligen und das obwohl er nicht als Märtyrer gestorben war. Seine Popularität glich der eines katholischen Popstars, der die Massen begeistern konnte. Heute sind allein in Frankreich 237 Städte und Dörfer und ungefähr 3600 Kirchen nach Martin benannt.2

Unter dem Frankenkönig Chlodwig I. nahm die Verehrung von Martin noch mehr zu. Chlodwig besaß einen Mantel, der (angeblich) dem Bischof gehört hatte, und verehrte ihn als Reliquie. Außerdem ernannte er Martin zum Schutzheiligen der fränkischen Könige und des Volkes.

Damit begründete er eine Tradition, die bis heute fortgesetzt wird und schon fast exzessive Ausmaße annimmt. Der arme Martin hat als Schutzheiliger jedenfalls einiges zu tun, auch wenn es keine fränkischen Könige mehr gibt, auf die er aufpassen soll. Dafür ist er inzwischen der Schutzpatron der Soldaten, Reiter, Weber und Schneider, Bauern, Winzer und Gastwirte, der Bettler, Gefangenen, Hirten, der französischen Polizei und noch vielen mehr. Ach ja, Pferde und Haustiere fallen auch noch in seinen Bereich.

Gänsebraten und Laternenzug: Bräuche am St. Martinstag

So viel also zur Lebensgeschichte von St. Martin. Doch woher kommen die Bräuche, die wir heute am Martinstag begehen?

St. Martin und die Gänse

Zum einen wären da die Gänse – ob gebraten oder aus Teig gebacken, um diese Tradition ranken sich einige Geschichte.

Die bekannteste Legende hat etwas mit seiner Ernennung zum Bischof zu tun. Denn als er sich vor der Wahl drücken wollte, versteckte Martin sich angeblich in einem Gänsestall. Doch die Gänse waren über den unerwarteten Besuch so aufgebracht, dass sie laut zum Schnattern anfingen und den armen Martin verrieten.

Eine andere Geschichte erzählt, dass Martin als Bischof eine Predigt hielt, als plötzlich eine Schar Gänse in die Kirche gewatschelt kam. (Klingt komisch, aber wäre damals sogar möglich gewesen…) Mit ihrem Geschnatter unterbrachen sie den Bischof, woraufhin sie eingefangen und zur Strafe gebraten wurden. Ganz schön drastisch, wenn du mich fragst…

Familienszene mit Martinsgans
Im 19. Jahrhundert wurde ein Festmahl mit Gänsebraten zum St. Martinstag abgehalten
(Abbildung aus „Das festliche Jahr in Sitten, Gebräuchen und Festen der germanischen Völker“, Leipzig 1863, gemeinfrei, Wikimedia Commons)

Ok, so nett die Geschichten auch sind, stimmen tun sie natürlich nicht. Sie sind erst im 14. Jahrhundert entstanden, als man nach einer Erklärung für den Brauch der Martinsgans gesucht hat. Der eigentliche Hintergrund ist aber wesentlich profaner.

Denn auf den Martinstag fiel traditionell auch der Hauptzinstag, an dem für Bauern ein neues Wirtschaftsjahr begann. Zu diesem Datum wurden Steuern und Pacht bezahlt, neue Verträge geschlossen, das Gesinde erhielt seinen Lohn und konnte die Stellung wechseln.

Die Pacht wurde nicht mit Geld, sondern in Naturalien bezahlt – etwa mit Gänsen. Die gehörten nämlich zu dem Vieh, das vor dem Winter geschlachtet wurde, damit man es nicht mit durchfüttern musste. Weil außerdem mit dem Martinstag auch die Fastenzeit vor Weihachten begann (aha, ja… der Advent ist eigentlich eine Fastenzeit), kam davor nochmal ein üppiger Braten auf den Tisch.

Die Tradition des Laternenumzugs

Und die Laternen? Nun, zum einen sind Umzüge mit Lichtern im Christentum nichts ungewöhnliches. Der Totenzug von St. Martin soll ebenfalls von Lichtern begleitet worden sein. Doch der Brauch hat laut dem Theologen Manfred Becker-Huberti einen anderen Ursprung.3

Am Abend vor wichtigen Feiertagen begeht man in der Kirche eine Lichterfeier, so auch am St. Martinstag. Irgendwann haben die Menschen angefangen, diesen Lichterbrauch aus dem Kirchenraum hinaus in die Welt zu tragen. Sie haben Martinsfeuer entzündet und Kinder trugen Fackeln aus Stroh und Laternen aus ausgehölten Rüben durch die Straßen (ja, das erinnert zurecht an Halloween). Wahrscheinlich kann man die Feuer auch als symbolischen Abschied vom Erntejahr und als Dank für die Ernte verstehen.

Um 1800 herum versuchte man den Brauch mit den Feuern einzudämmen, aus Sorge vor der Brandgefahr. In der Gegend am Niederrhein dachten die Leute aber lieber um und interpretierten den Brauch einfach neu. Sie nahmen sich die Kölner Rosenmontagsumzüge zum Vorbild und inszenierten ein Schauspiel mit Martin zu Pferde und einem Bettler.
Dann drückten sie ein paar Kindern Laternen in die Hand, auf denen thematisch passende Szenen aus der Heiligenlegende zu sehen waren – und voilà: Der Laternenumzug war geboren.

Somit ist dieser Brauch noch gar nicht so wahnsinnig alt, sondern ein Erbe des 19. Jahrhunderts – und nicht etwa ein alter heidnischer Lichterbrauch, oder so.

Gemälde von St. Martinsumzug mit leuchtenden Laternen
St. Martinsumzug auf dem Düsseldorfer Marktplatz, Aquarell von Heinrich Hermanns, 1908
(Auktionshaus Lempertz, Gemeinfrei, Wikimedia Commons)

Und was machen die Protestanten?

Was machen eigentlich die Protestanten am 11. November? Im evangelischen Glauben haben sie es ja nicht so sehr mit den Heiligen, aber auf einen Laternenumzug müssen die Kinder trotzdem nicht verzichten.

Denn am 11. November feiern Protestanten den Geburtstag von Martin Luther – und natürlich gleichzeitig seinen Namenstag. Dass beides auf denselben Tag fällt, ist übrigens kein Zufall. Früher haben Eltern es sich mit der Namensgebung einfach gemacht und das Kind nach dem Heiligen benannt, dessen Tag gerade war.

Zur Feier des Tages und zu Ehren von Martin Luther ziehen daher auch die evangelischen Kinder mit Laternen durch die Straßen. Dass der Brauch mit den Lichtern übernommen, aber nicht mehr direkt in Bezug zu St. Martin gesetzt wird, ist inzwischen häufiger der Fall. Als Sonne-Mond-und-Sterne-Fest oder Laternenfest versucht man mancherorts, die Tradition in einen weniger religiösen Kontext zu bringen.

Für meine Heimatstadt München gilt das natürlich nicht. Im katholischen Oberbayern feiern wir noch den Heiligen Martin mit allem was dazu gehört.

Da fällt mir ein, ich muss jetzt auch gleich los – Martinsgänse backen.

Literatur

Albert Bichler: Freunde im Himmel. Mit bayerischen Heiligen durchs Jahr, München 2009.

Bettina Maedjong: Bräuche rund um den Bischof von Tours. Sankt Martin – das müssen Sie wissen, RP online vom 10. November 2021.

Sankt Martin: Warum feiern wir den Martinstag?, NDR online vom 11. November 2021.

Christina Heller: St. Martin. Was steckt hinter den Laternen und der Martinsgans?, Interview mit Manfred Becker-Huberti, Augsburger Allgemeine online vom 10.11.2016.

Joachim Schäfer: Martin von Tours, Artikel in: Ökumenisches Heiligenlexikon, abgerufen am 11.11.2021.

  1. Der Arianismus war eine theologische Position, die von dem Theologen Arius (ca. 260-327 n. d. Z.) vertreten wurde und sich gegen das Bekenntnis von Nicäa (325), also das erste ökumenischen Konzil, richtete. Arianer sagten, dass die Wesensgleichheit von Gott, Vater und Sohn dem Monotheismus widerspräche und daher eine Irrlehre sei. Nachzulesen im Wikipedia-Artikel []
  2. Joachim Schäfer: Martin von Tours, Artikel in: Ökumenisches Heiligenlexikon, abgerufen am 11.11.2021. []
  3. Christina Heller: St. Martin. Was steckt hinter den Laternen und der Martinsgans?, Interview mit Manfred Becker-Huberti vom 10.11.2016, auf Augsburger Allgemeine online []
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