Wozu ist Geschichte eigentlich gut? Das ist eine der Frage, die den wenigsten von uns im Geschichtsunterricht beantwortet wurde. Vielleicht kommt daher das allgemein eher geringe Interesse an dem Fach. Was wirklich schade ist – denn es gibt eine ganze Reihe an wertvollen Kompetenzen, die du durch Geschichte erwirbst.
Geschichte kann so viel mehr als Daten und Fakten. Sie erweitert deinen Horizont, schult dich im selbständigen Denken und fördert dein Bewusstsein für die Welt, in der du lebst. Das klingt vielleicht ein bisschen abstrakt und vage.
Um das anschaulicher zu machen, habe ich daher eine ganze Liste von Kompetenzen zusammengetragen, die du dir über Geschichte aneignen kannst.
Übersicht
Acht Kompetenzen, die du durch Geschichte lernst
Es gibt mit Sicherheit noch eine ganze Reihe weiterer wertvoller Fähigkeiten, die Geschichte dir beibringen kann. Ich habe hier einfach mal die acht herausgegriffen, die ich persönlich am wichtigsten finde.
Die acht Kompetenzen in aller Kürze:
- Die Fähigkeit kritisch zu denken
- Das große Ganze sehen
- Eine weltoffene und aufgeschlossene Haltung einnehmen
- Die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis erlangen
- Ein differenziertes Weltbild entwickeln
- Sich in Bescheidenheit üben
- Wertschätzung empfinden
- Ein tiefes Verständnis für die Welt erlangen
Wie die alle im einzelnen mit Geschichte zusammenhängen? Lies weiter und lass dich überraschen.
1. Die Fähigkeit kritisch zu denken
Kritisches Denken ist in unserer Welt eine immens wichtige Fähigkeit. Wir werden jeden Tag mit so vielen Informationen bombardiert, dass es nicht immer leicht ist, den Überblick zu behalten.
Geschweige denn zu wissen, was davon wirklich relevant, wichtig oder auch einfach Fake News ist.
Geschichte schult deine Kompetenz im kritischen Denken extrem. Denn wir Historikerinnen wissen: Der Blick auf die Vergangenheit ist immer eine Interpretation der Geschehnisse. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie es „wirklich gewesen ist“.
Klar, es gibt einige Daten und Fakten, die unbestreitbar sind. Doch alles andere ist Erzählung und Interpretation. Je nach Gesellschaft, Kultur und Zeitgeist wird Geschichte auch zu Propagandazwecken genutzt oder zum Beispiel im Sinne ideologischer Strömungen ausgelegt.
Die Fähigkeit, alles kritisch zu hinterfragen ist somit eine Kernkompetenz von Historikerinnen. Und wenn du dich mit Geschichte beschäftigst, wirst auch du ganz automatisch anfangen, kritisch über die Welt nachzudenken. Und zwar nicht nur über die vergangene, sondern auch die, in der du heute lebst.
Einen ausführlichen Artikel zu der Frage, wie du mithilfe von Geschichte dein kritisches Denken schulen kannst, findest hier.
2. Das große Ganze sehen
Hast du auch manchmal das Gefühl, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen? Wir leben in einer extrem kleinteiligen Welt – und darum verlieren wir oft das große Ganze aus den Augen. Für alles haben wir eine passende Kategorie, Subkategorie und Subsubkategorie. Nichts auf dieser Welt, für das du keinen passenden Experten finden könntest.
Egal ob du einen Masterstudiengang, eine Hundetherapeutin oder die passende Ernährungsform finden willst, du siehst dich einer überwältigenden Vielzahl an Möglichkeiten und spezifischen Angeboten gegenüber. Klar, für die individuelle Entfaltung ist das toll. Das menschliche Gehirn ist früher oder später aber auch ganz schön überfordert.
Und du verlierst den Fokus auf das, was eigentlich wichtig ist.
Dinge in ihren größeren Kontext einzuordnen, liegt für Geschichte in der Natur der Sache. Wenn du dich mit Geschichte beschäftigst, trittst du immer wieder einen Schritt zurück und wirfst einen Blick auf das große Ganze. Das Rein- und Rauszoomen auf Ereignisse und ihre zeitliche Umgebung passiert dabei ganz automatisch. Du lernst dadurch, dich nicht in Details zu verlieren, sondern auch immer den Überblick zu behalten.
Eine der wertvollsten Kompetenzen, die Geschichte dir beibringen kann, ist also das Kontextualisieren und das große Ganze zu sehen.
3. Eine weltoffene und aufgeschlossene Haltung einnehmen
Ok, leider haftet Geschichte noch immer ein Image an, das sie als rückwärtsgewandt, starr und konservativ abstempelt. Das liegt mit Sicherheit auch daran, dass (rechts)konservative Strömungen sich besonders gerne auf Tradition und Geschichte berufen.
Was aber alle Beteiligten dabei gerne übersehen: Bei Geschichte geht es nicht darum, Altes um jeden Preis zu erhalten und alles Neue abzulehnen.
Im Gegenteil: Geschichte erzählt von Prozess und Veränderung.
Darum erweitert Geschichte auch deinen Horizont. Denn wenn du dich mit vergangenen Zeiten und Gesellschaften auseinandersetzt, ist das vergleichbar mit einer Reise in ein fernes Land. Du wirst erkennen, dass damals völlig andere Lebenskonzepte, Weltanschauungen und Normen vorherrschten. Und vor allem wirst du immer wieder überrascht feststellen, dass unser Leben heute nicht immer so viel besser, fortschrittlicher und lebenswerter ist, wie wir glauben.
Ich will auch nicht sagen, dass es schlechter ist – aber auf jeden Fall anders. Und ähnlich wie der Besuch in fremden Ländern uns offener für andere Kulturen werden lässt, so kann eine Reise durch die Zeit einen ganz ähnlichen Effekt haben.
4. Die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis erlangen
Sich selbst zu reflektieren und das Vermögen zur Selbsterkenntnis ist eine enorm wichtige Fähigkeit. Für viele Menschen ist das eine der überraschendsten Kompetenzen, die Geschichte vermitteln kann. Für mich stellt sie gleichzeitig die wertvollste dar. Darum macht sie auch den Kern meiner gesamten Arbeit als Historikerin aus.
Wie Geschichte dir auf dem Weg zur Selbsterkenntnis helfen kann? Nun, wir alle sind ein Teil der Gesellschaft, genauso wie die Gesellschaft sich aus den einzelnen Individuen zusammensetzt. Somit bist du ein Spiegel der Gesellschaft, so wie sie ein Spiegel von uns allen ist.
Es ist extrem hilfreich zu wissen, welche Werte, Normen und Konstrukte unsere Gesellschaft hochhält. Denn dann kannst du dich selbst darin viel besser einordnen und manche deiner eigenen Prägungen und Verhaltensmuster tiefgehend verstehen.
Vor allem die Frage danach, wie wir heute zu dem geworden sind, wer wir sind, ist ein echter Augenöffner.
Denn über sie erkennst du schließlich, dass nichts in Stein gemeißelt ist und unsere tagtäglich gelebten „Wahrheiten“ letztendlich nur Ausdruck eines modernen Zeitgeistes sind. Wahrscheinlich wirst du anfangen dich zu fragen, was davon du eigentlich wirklich willst – und wo du dich gesellschaftlichen Erwartungen und Konventionen unterwirfst.
Das Bewusstsein darüber, dass alle gesellschaftlichen Ordnungen historisch gewachsen sind, kann dir dabei helfen, Abstand zu deiner eigenen zu gewinnen. Der Raum, der sich dadurch öffnet, bietet Platz für Reflexion, Selbsterkenntnis – und die Freiheit selbst zu Entscheiden.
5. Ein differenziertes Weltbild entwickeln
So sehr der gesellschaftliche Trend auch dahin geht, die Welt zu vereinfachen und in hübsch sauber verpackte Kategorien wie richtig oder falsch einzuordnen, die Realität ist eine andere.
Nichts auf dieser Welt, in diesem Leben ist einfach.
Darum lässt sich auch nichts mit einer simplen Gegenüberstellung erklären, denn endgültige Antworten sind meistens eine extrem verkürzte Sichtweise der Welt. Doch zwischen schwarz und weiß gibt es eine unendliche Bandbreite an Grautönen. Diese Zwischentöne zu erkennen ist nicht immer leicht und widerstrebt bestimmt manchmal auch deinem Gerechtigkeits- oder Werteempfinden.
Doch es lohnt sich, diese Anstrengung zu unternehmen. Denn ein Mensch, der denkt, alle richtigen Antworten schon zu kennen, ist nicht mehr offen – weder für neues Wissen, noch für den Austausch mit anderen. Und er läuft Gefahr, wichtige Aspekte und damit vielleicht auch Lösungen für ein Problem zu übersehen, wenn er sich zu sehr auf seine Haltung versteift.
Darum ist es elementar wichtig, einen differenzierten Blick auf die Welt zu schulen.
Durch die Allgemeinbildung, die verschiedenen Perspektiven und auch den Erfahrungsschatz, die du durch Geschichte gewinnst, entwickelst du automisch ein differenziertes Weltbild. Denn du weißt, dass nichts auf dieser Welt jemals so einfach war, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheint.
6. Sich in Bescheidenheit üben
Diese Fähigkeit schließt direkt an einige der vorangegangenen Punkte an. Denn nicht der Versuchung zu unterliegen, die Wahrheit für sich zu beanspruchen, offen für andere Ansichten zu bleiben und die eigene Kultur und sich selbst immer wieder kritisch zu hinterfragen – all das fördert auch Bescheidenheit.
Bescheidenheit ist eine Tugend, die heutzutage nicht unbedingt als sexy angesehen wird. Und auch wenn der sogenannte humblebrag – also eine Art vorgetäuschter Demut, die eigentlich zur Angeberei dient – unter einschlägigen Influencern zur Normalität gehört, hat das nicht viel mit echter Bescheidenheit zu tun.
Dabei könnte vor allem die westliche Kultur eine großzügige Dosis Bescheidenheit ganz gut gebrauchen.
Bescheidenheit ist eine der Kompetenzen, die Geschichte allein durch ihr Wesen mit sich bringt. Denn der Blick auf Zeithorizonte, die das eigene Leben, das eigene Jahrhundert oder selbst Jahrtausend weit übersteigen, kann einen Menschen eigentlich nur reine Demut fühlen lassen.1
7. Wertschätzung empfinden
Ähnlich wie mit der Bescheidenheit verhält es sich auch mit der Wertschätzung. Es liegt in der menschlichen Natur, dass wir aufhören Dinge zu wertschätzen, die wir ständig haben können. Das fängt bei einem Überangebot an Nahrung, Luxusgütern und Bequemlichkeit an – und hört bei Werten wie Freiheit, Gleichheit und Menschenrechten auf.
Die schmerzhaften Erfahrungen der vergangenen zwei Pandemiejahren, haben uns das mal wieder deutlich vor Augen geführt. Was macht das mit jedem einzelnen von uns, wenn unsere Grundbedürfnisse und -rechte massiv eingeschränkt werden?
Die meisten von uns haben gelernt, vermeintliche Kleinigkeiten wieder wertzuschätzen. Sich frei bewegen zu dürfen, Freunde und Familie zu sehen oder einfach nur gesund zu sein, hat auf einmal wieder eine viel tiefere Bedeutung. Doch wie lange dauert es, bis wir das wieder vergessen haben? Ich habe in letzter Zeit öfters die Überlegung gehört, ob es solch schwerwiegende Ereignisse von Zeit zu Zeit braucht – einfach nur, um uns daran zu erinnern, wie glücklich wir uns schätzen können.
Ich würde mir wünschen, dass dem nicht so ist. Und ich glaube auch, dass es schon helfen kann, wenn wir uns in regelmäßigen Abständen selbst daran erinnern. Als Historikerin werde ich zum Beispiel beinahe täglich mit diesen Themen konfrontiert. Etwa dass unsere Demokratie verhältnismäßig jung, Freiheit nicht selbstverständlich und Gesundheit erst durch die Möglichkeiten moderner Medizin zum Grundrecht geworden ist.
Ich kann nicht anders, als regelmäßig ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit und Wertschätzung für mein Leben zu empfinden, so groß die Herausforderungen an unsere Zeit auch sein mögen.
8. Ein tiefes Verständnis unserer Welt
Last but absolutely not least, ist die Fähigkeit zum besseren Verständnis unserer Welt. Das ist mit Sicherheit eine der wichtigsten Kompetenzen, die du durch Geschichte erlangst. Denn historische Bildung lässt dich wichtige Hintergründe und Zusammenhänge erkennen.
Meiner Meinung nach kannst du deine eigene Zeit gar nicht wirklich verstehen, wenn du keine Ahnung von Geschichte hast.
Ohne das Wissen, was hinter den Dingen steckt, wirst du immer nur an der Oberfläche kratzen. Nichts ist einfach so aus einem Vakuum heraus entstanden. Alles, von politischen Strukturen, über Gesellschaften bis hin zu deinem Alltagsleben, ist das Ergebnis historischer Prozesse.
Und wenn du weißt, woher wir kommen, kannst du nicht nur die Gegenwart begreifen – sondern auch die Zukunft ganz bewusst mitgestalten.
Willst du mit Geschichte deine Kompetenzen erweitern?
Ich glaube, ich habe deutlich gemacht, warum es eine gute Idee ist, sich mit Geschichte zu beschäftigen. Und jetzt verrate ich dir noch ein Geheimnis: Geschichte kann auch Spaß machen. Und wenn du einmal von der Faszination angesteckt wurdest, wird sie dich nie wieder loslassen.
Falls du dich jetzt fragst, wie und wo du damit anfangen sollst, dein Geschichtswissen zu erweitern, habe ich noch ein paar Anregungen für dich.
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Beitragsbild: Foto von abdullah . von Pexels
- Einen faszinierenden Ted Talk über die Geschichte der Welt findest du hier: David Christian – The history of the world in 18 minutes [↩]
1 Kommentar
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